Rezension/Kritik - Online seit 03.08.2008. Dieser Artikel wurde 4385 mal aufgerufen.
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Bauxitfund im brasilianischen Regenwald! Schon rückt die Großindustrie mit Baggern und Schaufelladern an - doch so einfach ist die Situation nicht. Die Regierung hat Einwände gegen die Errichtung von Abbauanlagen und Straßen - und der Stamm der Waimiri, der Ureinwohner Amazoniens, fürchtet um den Verlust seines Lebensraumes. Welche Interessen werden sich durchsetzen?
Ein 7x7 Plättchen großes Feld steht für das Abbaugebiet, umgeben vom Dickicht des Regenwaldes (verdeckte Regenwald- und Waimiri-Plättchen). Links oben funkelt das Bauxit, im Hafen rechts unten warten Arbeiter sehnsüchtig auf die Ankuft des gewinnbringenden Rohstoffes. Doch lange, zähe Verhandlungen zwischen den aus je 4 bis 10 Vertretern bestehenden Interessensgruppen der Industrie, Regierung und der Waimiri stehen bevor, ehe die Aluminiumproduktion beginnen kann - wenn es denn überhaupt so weit kommt ...
Pro Spierunde schlägt eine Interessensgruppe ein Bauvorhaben vor: Die Errichtung von Mine oder Produktionsgebäuden, den Bau eines benachbarten Kraftwerkes zur Stromversorgung dieser Anlagen, den Bau eines Straßenabschnitts oder - als "grüne" Alternative - die Errichtung eines Schutzgebietes.
Jeder Vorschlag wird heiß diskutiert und mit Argmenten untermauert - stets mit dem Ziel, eine der "Konkurrenzgruppen" auf die eigene Seite zu ziehen. Die endgültige Entscheidung fällt in der Abstimmung: Jede Gruppe entscheidet sich für (grün) oder gegen (rot) den Antrag, und nimmt den entsprechenden Farbchip in die geschlossene Hand. Das simultane Öffnen offenbart, ob der Antrag von Erfolg gekrönt war oder verfällt.
Unterlegene Gruppen erhalten zum Trost einen weißen Abstimmungschip, mit dem sie später ihrer Stimme mehr Gewicht verleihen können. So zählen ein grüner + drei weiße Chips beispielweise als 4-faches Ja. Auf diese Weise kann manch folgenschwere Entscheidung auch gegen zwei widerspenstige Interessensgruppen durchgeknüppelt werden. Danach sind die Zusatzchips allerdings futsch.
Verzichtet eine Gruppe auf ihr Vorschlagsrecht, darf sie stattdessen ein Urwaldfeld aufdecken (sog. "Untersuchung").
Das Spiel endet, wenn eine komplette Infrastruktur aus Mine, Produktionsgebäude und Kraftwerken nebst durchgängiger Straßenanbindung zum Hafen errichtet wurde. Oder alternativ: Wenn alle Aktionskarten (11 Straßen, 15 Schutzgebiete sowie die 4 Abbaugebäude) platziert wurden. Es gewinnt jede Interessensgruppe, deren Spielziele nicht gebrochen wurden:
Die Waimiri müssen ab dem 3. zerstörten Waimiri- oder Regenwaldfeld ersatzweise 1 Schutzgebiet errichten. Alternativ müssen sie den Bau der Straßenverbindung zum Hafen verhindern.
Die Aluminiumindustrie benötigt den Bau aller Produktionsanlagen nebst Straßenanbindung des Hafens.
Die Regierung fährt eine Mischstrategie: Auch sie will den Bauxitabbau nebst Straße, muss aber die Waimiri schützen (max. 4 zerstörte Felder) und den Regenwald erhalten (Schutzgebiete für jedes 2. zerstörte Feld).
Waimiri ist ein kommunikatives Lernspiel für Großgruppen und damit ein Sonderling in der Spielelandschaft. Die spielerische Problematisierung des Themas Regenwaldzerstörung nebst daraus resultierender Interessenskonflikte ist in der Schule Thema in Klasse 7 - daher habe ich das Spiel dort in zwei Klassen ausprobiert.
Spielerische Umsetzungen sind von Natur aus motivierend, das hübsche Spielmaterial und der Ansatz, ein "unbekanntes" Gebiet zu erforschen, reizen sofort. Amüsant, aber wenig verwunderlich: Die Kids bevorzugen Extrempositionen - entweder "Rettet den Regenwald" oder "Bad industrial boys". Die ambivalente und am schwierigsten (aber auch am interessantesten!) zu spielende Position der Regierung musste erst schmackhaft gemacht werden.
Eine wichtige Komponente, damit das Spiel überhaupt funktionert, ist die deutliche und jederzeit einsehbare Darstellung der einzelnen Spielziele. Die Schüler müssen ganz genau wissen, worauf sie und ihre Konkurrenten abzielen - sonst geraten die Diskussionen zur Farce. Plakataushänge mit den Zielen erwiesen sich als sehr hilfreich.
Im Spiel selbst dominiert als Spannungselement eindeutig die Abstimmung. Hier wird - oft entgegen der Diskussionsposition - nach Lust und Laune geblufft, um in der einen oder anderen Abstimmung wider die eigenen Interessen zu unterliegen, nur um mit weißen Chips betankt in den Folgerunden bittere Rache zu nehmen. Was sich spontan so lustig anhört, entpuppt sich aber langfristig als Schwachpunkt.
Da ist zum einen die Frage der mäßigen pädagogischen Stringenz: Macht es Sinn, dass die Interessensgruppen permanent wider ihre Ziele handeln, nur um sich Chipmehrheiten zu sichern? Es entstand bei mir der Eindruck, dass das Abstimmungssystem das Rollenverständnis verwässert: Je länger das Spiel dauert, desto mehr achten die Schüler auf die Frage, wie viele Chips sie besitzen - wann sie für was genau abstimmen, gerät in den Hintergrund. Hauptsache rechtzeitig die Ziele des Gegners blockieren. Die Identifikation mit der eigenen Rolle fällt eher schwach aus.
Balanceschwächen stützen dieses eher auf kurzfristige Abstimmungserfolge ausgelegte System: Mit Regierung und Industrie können zwei Gruppen nur gewinnen, wenn sie die Straße zum Hafen errichten. Die Waimiri siegen, wenn sie dies verhindern. Das Element "Straßenbau" dominiert dadurch in den Verhandlungen völlig. Ein gezieltes Schützen von Waimiri-Feldern ist nur durch die "Untersuchung" möglich. Groteskerweise hat daran lediglich die Regierung direktes Interesse. Die Waimiri-Ziele verlangen nur nach einer ausreichenden Pufferung durch Schutzgebiete - und die bauen diese zur Verhinderung der Straße sowieso. Für die Industrie ist die Art des zerstörten Regenwaldes völlig irrelevant, wozu also ein Vorschlagsrecht opfern? In beiden Schulklassen wurde über die gesamte Spielzeit keine einzige Untersuchung durchgeführt. Das kann dazu führen, dass durch eine unglückliche, rasche Zerstörung von 5 Waimirifeldern die Regierung nicht mehr siegfähig ist - eine unbefriedigende Situation, denn was macht diese Gruppe dann für den Rest des Spiels?
Und dieser "Rest" kann dauern. Die reine Spielzeit wird vom Verlag mit 90 Minuten angegeben - korrekt! Das sind 2 komplette Schulstunden - Vorbereitungen, Plakatgestaltung und Abschlussanalyse ausgenommen. Für diese enorme Spieldauer ist ein einziges Spannungselement (die Abstimmung) zu wenig. Das System Vorschlag - Diskussion - Abstimmung verliert nach maximal einer Schulstunde seinen Reiz, zumal aufgrund der Gruppengröße (je 8 bis 10 Schüler) einfach zu wenige Schüler aktiv an jeder Runde teilnehmen können, will man ein vertretbar zügiges Fortschrittstempo einhalten. Verschärft wird diese Problematik durch die diffuse Sinnhaftigkeit der Diskussionen, wenn danach aus chiptaktischen Gründen ohnehin völlig wider das eigene Rollenverständnis abgestimmt wird (was eben "leider" oft durchaus Sinn macht).
Was bleibt ist ein lobenswerter Ansatz, dessen Umsetzung an der optimierungsbedürftigen Verzahnung seiner Elemente und mangelnder Abwechslung krankt. Häufig laufen die Spiele gegen Ende auf ein zähes Ringen um die letzten 1 bis 2 Straßenfelder hinaus. Da zwei Interessensgruppen die Straße brauchen, bolzen diese es meistens irgendwann gegen die Waimiri durch - mit Sieg für die Industrie, falls unterwegs zu viele Waimirifelder auf der Strecke blieben. Immerhin: Ein solcher Spielausgang hat wenigstens einen traurig hohen Realitätsbezug ...
Rezension Steffen Stroh
Anmerkung: Zur besseren Lesbarkeit der Texte verwenden wir häufig das generische Maskulinum, welches sich zugleich auf weibliche, männliche und andere Geschlechteridentitäten bezieht.
H@LL9000 Wertung Waimiri (Alufalle im Regenwald): 3,0, 1 Bewertung(en)
Aufmachung | Spielbarkeit | Interaktion | Einfluss | Spielreiz | Kommentar |
03.05.08 von Steffen Stroh |
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