Rezension/Kritik - Online seit 12.11.2003. Dieser Artikel wurde 8729 mal aufgerufen.
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VIVE LE ROI - mein Herr, den Henker bitte zu mir!
Zugegeben, Kartenspiele mag ich besonders gern, es gibt kaum ein neues Kartenspiel, das ich nicht zumindest ausprobiere. Zu meinen absoluten Lieblingsspielen zähle ich daher auch STICHELN, MIT LIST UND TÜCKE, KARRIERE POKER, WIZARD, VERRÄTER, MEUTERER, OHNE FURCHT UND ADEL, ROUTE 66 ( ich weiß, das kennt kaum einer außerhalb unserer Spielrunden!), KLUNKER usw. Als ich auf der Spiel '00 in Essen am Stand der Heidelberger die deutsche Version des bisher nur als Import erhältlichen OVERTHRONE entdeckte, habe ich mir gleich einen Mitarbeiter des Standes gekrallt und ihn gebeten, mich kurz in das Spiel einzuführen. Meine Erfahrungen mit dem Original waren übrigens auch nur rudimentär und bestanden eigentlich nur aus einer Partie 1998 in Essen, wo mir von drei englischen Spielern dieses Spiel erklärt wurde – leider hatte ich fast alles wieder vergessen, als ich jetzt erneut einen Anlauf in das Spiel versuchte. Nicht das ich hier falsch verstanden werde: der Mitarbeiter des Verlages hat sich wirklich alle Mühe gegeben, mir einen kurzgefassten Einstieg zu ermöglichen. Trotzdem nahmen allein die Erklärungen der Karten und des Spielablaufs rund 45 Minuten in Anspruch, gespielt hatten wir bis dahin noch gar nicht! Ohne diese Erläuterungen hätte ich anhand der Spielregeln wahrscheinlich noch länger gebraucht – obwohl die Regel eigentlich gut geschrieben und auch vernünftig gegliedert ist. Nur ist das Spiel eben nicht so einfach und locker zu spielen wie die oben erwähnten Spiele, ich würde es von seinem Anspruch eher in Richtung JUNTA oder HONOUR OF THE SAMURAI ansiedeln. Doch diese Erkenntnis dämmert mit Sicherheit erst während der ersten Partien, entweder ist man am Anfang erschlagen von bestimmten Bedingungen des Spielablaufs oder aber man schätzt das Ganze in völliger Verkennung des tatsächlichen Spielwerts als eine Art Canasta oder Rommee ein.
Das gesamte Spiel besteht aus 114 Karten und sechs Kurzregeln, dazu kommt eine 16-seitige Spielregel, die als Leporello gefaltet beiliegt. Worum geht es? Ganz kurz gesagt um Provinzen und ihre Beherrschung, Gewinner ist der Spieler, der am Ende des Spiels die meisten Punkte hat – und Punkte gibt es auf zwei Arten, einmal durch den Besitz von Provinzen ( die auch während des Spiels bei den sogenannten "Provinzwertungen" Punkte bringen) und durch Personenkarten, die allerdings nur bei der Endabrechnung zählen. Zu Beginn erhält jeder der bis zu sechs Spieler einen Adligen und eine Provinz verdeckt zugeteilt, diese Karten legen alle Spieler als Basis ihrer sogenannten Machtstruktur vor sich aus. Von jeder Provinzsorte gibt es drei Karten, sieben verschiedene Provinzen kommen vor, so dass insgesamt 21 Provinzkarten vorhanden sind. Adlige gibt es sechs im Spiel, bei voller Besetzung werden alle Adligen ausgeteilt. Der Spieler mit dem ranghöchsten Adligen erhält zusätzlich die Königskarte, die er ebenfalls vor sich ablegt. Danach erhalten alle Spieler noch sieben Karten verdeckt als Handkarten. Die jetzt möglichen Handlungen sind während des gesamten Spiels gleich und umfassen bis zu vier Phasen: die Zugrunde, das Verteilen der ausgespielten Karten, gegebenenfalls eine Wertung und die Ermittlung des neuen Startspielers. Der Startspieler ist immer der Spieler, der links vom Königsbesitzer platziert ist, damit sitzt der König immer in der Hinterhand, ein in diesem Spiel immenser Vorteil. In der Zugrunde zieht jeder Spieler zuerst eine Karte vom Talon, danach hat er die Wahl zwischen vier Aktionen, nämlich dem Duell mit einem anderen Adligen, dem Angriff auf eine andere Provinz, dem Bestechungsversuch an einer fremden Personenkarte oder der Passivität, also dem Nichtstun. Und zum Schluss legt er eine Karte aus seiner Hand so in die Tischmitte, dass erkennbar ist, zu welchem Spieler sie gehört Um die Aktionen genauer zu erklären, bedarf es einiger Informationen zu den Spielkarten. Neben den bereits erwähnten Adligen, Provinzen und dem König gibt es noch Musketiere, Höflinge, Amtsträger, Goldkarten und Ereigniskarten. Die ersten drei Sorten nennt man auch Personenkarten, die Goldkarten und Provinzkarten werden als Besitzkarten bezeichnet. Alle Karten haben eine Zahl aufgedruckt, die ihre Wertigkeit angibt. Bei Provinzen ist es immer eine drei, Gold kann eins bis drei wert sein, Höflinge zwischen vier und sechs und Musketiere sogar eins bis sieben. Die Amtsträger haben neben ihrem Wert, der von drei bis sieben reicht, noch zusätzliche Sonderfunktionen, die ihren eigentlichen Nutzen ausmachen. Bei einem Duell kann ein anderer Adliger herausgefordert werden, die Kontrahenten müssen dazu eine Zahlenkarte einsetzen, die höhere Zahl gewinnt. Der besiegte Adlige muss abgelegt werden, ebenso die eingesetzten Zahlenkarten. Zwar ist der Verlust eines Adligen nicht so gravierend, dass jetzt schon das Spiel verloren ist, aber ein herber Verlust ist es allemal: besitzt der Spieler Provinzen, die das gleiche Wappen führen wie der eigene Adlige, so zählen diese Provinzen doppelt, also statt drei Punkten sechs Punkte pro Karte! Die zweite Aktion ist der Angriff auf eine Provinz, hierzu dienen die Musketiere. Der Angreifer kann einen oder mehrere Musketiere aus seiner hand ausspielen , deren Wert addiert wird. Der Verteidiger setzt zum einen Musketiere ein, die auf Provinzen ausgelegt sind und kann zusätzlich aus der Hand ausspielen. Gewinner ist natürlich der höhere Gesamtwert, bei Unentschieden siegt der Verteidiger. Bei einem Sieg des Angreifers kann dieser die eroberte Provinz in seine Machtstruktur aufnehmen. Die Bestechung als letzte Möglichkeit läuft ähnlich ab, hier wird einer ausgelegten Personenkarte in der gegnerischen Machtstruktur Gold zugeordnet, der Verteidiger versucht wiederum einen Gleichstand zu erzielen. Gewinnt der Angreifer, läuft die Personenkarte in seine Machtstruktur über. Die letzte Handlung jeden Spielers in der Zugrunde besteht darin, eine Handkarte in die Tischmitte zu legen. Um diese Karten geht es dann in der zweiten Phase. Zuerst werden etwaige Ereigniskarten ausgewertet. Und hierbei gibt es wirklich nette Sachen wie z.B. den Henker, der eine Personenkarte eines anderen Spielers "köpft" und auf den Ablagestapel schickt. Oder die Unruhen, die alle nicht durch Musketiere bewachten Provinzen eines Gegners in Deine Hand bringen. Nicht zu vergessen natürlich die wohl wichtigste Karte, die insgesamt sechs mal vorkommt: die Rebellion. Liegt am Ende einer Zugrunde nur eine Rebellion in der Tischmitte, erhält der Spieler, der diese Karte gespielt hat, alle ausgespielten Karten außer den Ereigniskarten und kann sie in seine Machtstruktur einfügen. Außerdem erhält er den König, der ansonsten nach jeder Runde um genau einen Spieler weiterwandert, und setzt ihn gefangen. Bis zu seiner Befreiung wird der König jetzt nicht mehr weitergegeben! Bei mehreren ausgespielten Rebellionen wird nur der König befreit, die Karten bleiben in der Tischmitte liegen. Allerdings kommt es anschließend in der 3.Phase in diesem Fall immer zu einer Provinzwertung, alle ausgelegten Provinzen bringen Punkte. Nur nach einer Wertung werden die Handkarten wieder auf sieben aufgefüllt, ansonsten muss man mit den vorhandenen Karten weiterspielen!
Nachdem die Ereigniskarten ausgewertet sind kommt es zur Verteilung der restlichen Karten. Aus jeder Gruppe (Provinzen, Gold, Musketiere, Höflinge – in dieser Reihenfolge wird gewertet!) erhält der Spieler die Karten, der den höchsten Wert ausgespielt hat. Die Karten werden dann sofort in die Machtstruktur eingegliedert: Musketiere können Provinzen als Schutz zugeordnet werden, Gold auf Personen gelegt verteuert eine Bestechung und vergrößert die Chancen, dass diese Personen auch bei der Endwertung noch in der eigenen Struktur liegen und Höflinge – die braucht man um bei Gleichstand der Kartenwerte (bei der Verteilung) die Nase vorn zu haben und vor allem auch bei der Endwertung. Liegen jetzt noch Amtsträger und Adlige aus, nehmen die Spieler die Karte in ihre Struktur auf, von denen die Karte ausgespielt worden ist. Jetzt kommt es –möglicherweise- zu einer Provinzwertung und als letzte Aktion zur Bestimmung des Startspielers, der ja in Abhängigkeit steht zum aktuellen Aufenthaltsort der Königskarte.
Eine Ereigniskarte verdient noch besondere Bedeutung, das "Ohr des Königs". Diese Karte wird sinnvollerweise auf einen eigenen Adligen ausgespielt, sie bringt 10 Punkte ein. Stirbt der Adlige, auf dem diese Karte liegt, wird die Karte frei ( die Punkte bleiben trotzdem beim ehemaligen Besitzer!) und alle Spieler, die noch einen Adligen besitzen können um sie mit Zahlenkarten bieten. Einen Gleichstand gibt es hier nicht, es wird so lange geboten, bis eine eindeutige Mehrheit vorhanden ist – alle eingesetzten Karten gehen auf die Ablage!
Es gibt noch einige weitere spezielle Regeln, auf die ich mit Rücksicht auf den Umfang dieser Rezension nicht eingehen möchte. Deutlich wird wohl auch schon jetzt, was ich mit der hohen Komplexität dieses Kartenspiels meinte. Es ist beileibe nicht mit dem einfachen Abwerfen von Karten in die Tischmitte getan, auch "nur so" durchgeführte Duelle oder Bestechungen führen recht schnell zum frühzeitigen Verlassen der Siegerstraße. Jede Aktion kann Harakiri bedeuten und sollte daher gut vorbereitet werden. Natürlich spielt das Glück beim Nachziehen der Karten eine gewisse Rolle, aber ich würde seine Bedeutung bei unterhalb 20% einstufen. Viel wichtiger ist es, zum richtigen Zeitpunkt eine vielleicht für die anderen Spieler uninteressante Karte auszuspielen und so seine Machtstruktur positiv zu verbessern. Längst nicht immer ist der kürzeste Weg zum Sieg auch der richtige, Geduld und eine überlegte Strategie sind oft die besseren Partner. Der Einsatz der Ereigniskarten ist ebenfalls eine zweischneidige Angelegenheit, da ich ja immer nur eine Karte pro Runde ausspielen darf und so vielleicht einem Gegner kampflos mehrere Karten überlassen muss. Besonders gemein ist natürlich der Fall, wenn mehrere Rebellionen zusammenfallen und es nur einen verhältnismäßig geringen Nutzen bringt. Gerade in diesen Situationen ist die Hinterhand natürlich von besonderer Bedeutung, wenn meine Kartenhand es zulässt kann ich dann gezielt punkten.
Vive le roi ist kein Spiel für den Sofortverzehr, ich habe mehrere Gruppen erlebt, die schon während der Erarbeitung der Regeln die Segel strichen. Aber es lohnt sich, hier nicht aufzugeben und ein wenig mehr Zeit zu investieren als vielleicht bei anderen Spielen üblich. Die Spieldauer beträgt rund 60 –75 Minuten, wenn man das Spiel von den Regeln her kennt. Die ersten Partien werden erheblich länger dauern, da doch an einigen Stellen das Regelheft bemüht werden muss. Ich selbst meine zwar, das die Spielregel im großen und ganzen eindeutig ist, aber einige Passagen hätten vielleicht doch noch illustriert werden sollen, um sie einfach greifbarer zu machen. So ist die Regel bis auf ein Bild der Machtstruktur eine reine Bleiwüste, gerade bei einem doch sehr anspruchsvollen Spiel nicht ideal. Nicht gelungen ist auch die Verpackung, es lässt sich fast nicht verhindern, dass Karten beim Verstauen verknickt werden. Diese Art der Schachtel ( so wie die ersten Ausgaben von z.B. 6 NIMMT) sind vielleicht ganz praktisch wegen ihrer Größe und weil sie eben nicht aufspringen, angenehmer wäre aber wohl doch eine Deckelschachtel. Sehr zu loben ist der absolute angemessene Preis von rund 15 DM, für das Geld erhält man ein wirklich empfehlenswertes Spiel, auf das man sich allerdings einlassen muss und das mehr "Einspielzeit" als ein gewöhnliches Kartenspiel erfordert.
Rezension Michael Schramm
In Kooperation mit der Spielezeitschrift
H@LL9000 Wertung Vive le roi: 4,5, 4 Bewertung(en)
Aufmachung | Spielbarkeit | Interaktion | Einfluss | Spielreiz | Kommentar |
01.04.04 von Michael Schramm |
Aufmachung | Spielbarkeit | Interaktion | Einfluss | Spielreiz | Kommentar |
24.05.05 von Sandra Lemberger |
Aufmachung | Spielbarkeit | Interaktion | Einfluss | Spielreiz | Kommentar |
25.09.05 von Jochen Traub |
Aufmachung | Spielbarkeit | Interaktion | Einfluss | Spielreiz | Kommentar |
21.03.12 von Michael Timpe - Anspruchsvoll, und manchmal auch sehr ungerechte Runden. Mir gefällts sehr gut. |
Leserwertung Vive le roi: 3.7, 3 Bewertung(en)
Aufmachung | Spielbarkeit | Interaktion | Einfluss | Spielreiz | Kommentar |
27.02.07 von Cyberian |
Aufmachung | Spielbarkeit | Interaktion | Einfluss | Spielreiz | Kommentar |
19.11.07 von Mike |
Aufmachung | Spielbarkeit | Interaktion | Einfluss | Spielreiz | Kommentar |
07.12.09 von Florian K. - Ob man in einem Zug überhaupt eine taktische Option hat, hängt vom Kartenglück ab. Wenn die Karten mitmachen, kann es spannend sein. - Um das Spiel wirklich rund zu machen, müssten Höflinge, deren Wappen man nicht hat, auch etwas bringen. So gibt es keinen Grund, sie auszuspielen (außer Verzweiflung). |