Rezension/Kritik - Online seit 17.07.2022. Dieser Artikel wurde 4117 mal aufgerufen.
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Mal wieder ein Schwergewicht von Spiel, im wahrsten Sinne des Wortes. Voll gepackt ist der dicke Spielkarton mit Spielplänen, Karten und allem möglichen Material. Zwar bemisst sich der Spielspaß durchaus nach dem Inhalt des Kartons, aber nicht nach dessen Gewicht, sonst wäre die Welt der Kartenspiele verloren und wir würden alle nur noch Mölky (Wikingerschach) spielen. Aber starke Schultern können viel tragen, hat sich der Autor gedacht, und neben der schweren Kiste müssen die Spielenden auch einen gewissen Regelumfang er-tragen. In der Kategorie Familienspiel ist das Spiel damit ganz sicher nicht mehr zu Hause.
City of Big Shoulders ist im Kern ein klassisches Eisenbahn- (18xx) Spiel, nur ohne Eisenbahnen. Oder, um diese sehr reduzierte Spielbeschreibung vielleicht noch etwas zu präzisieren: Es ist ein weitgehend abstraktes Wirtschaftsspiel, mit zwei Spielphasen um Geld und Aktien.
In der Aktienphase agieren die Spielenden „selber“ indem sie entweder neue Firmen gründen oder Aktien von bereits existierenden Firmen kaufen und verkaufen. Durch die Gründung und den Kauf von Aktien erhalten die Firmen Geld.
In der nachfolgenden Aktionsphase agieren die Firmen, und zwar mit dem durch die Aktienverkäufe generierten Geld und nach dem Willen des Spielenden, welcher aktuell die Aktienmehrheit hält, dadurch zum „Handlungsbevollmächtigten“ dieser Firma avanciert.
Die Firmen stellen Personal ein oder automatisieren ihre Produktion, um Waren zu produzieren. Verkaufsagenten helfen, den Preis der Waren zu steigern, und Manager verbessern die Produktion allgemein. Technische Innovationen verbessern das Marketing der Firma oder den Zugriff auf notwendigen Ressourcen für die Produktion. All das aber natürlich nur, wenn die Firma über ausreichend Geld verfügt, diese dauerhaften Verbesserungen auch zu finanzieren.
Zum Abschluss der Aktionsphase darf jede Firma noch Rohstoffe kaufen. Damit werden Waren produziert, die am Markt verkauft werden können. Der aktuelle Spieler der Firma muss dann entscheiden, ob das beim Verkauf generierte Geld anteilsmäßig an die Aktionäre ausgezahlt wird – dann steigt der Aktienwert – oder ob die Firma das Geld für die eigene Entwicklung in der nächsten Runde zurückbehält – was den Aktienkurs sinken lässt.
Es folgt die nächste Aktienphase, in der die Spielenden mit dem Geld aus ihren Dividenden oder durch den Verkauf von Aktien wieder weiter investieren können.
Nach 5 Runden endet das Spiel und alle Spielenden rechnen ihr Bargeld plus Aktienwert zusammen. Der reichste Spielende gewinnt.
Spiele wie City of Big Shoulders, bei denen die Spielenden zwischen „ihrem“ Geld und dem der verwalteten Firmen sorgfältig trennen müssen, gibt es einige. Ich persönlich mag solche Spiele und auch den Umstand, dass Firmen hier – gewollt oder ungewollt – mal den Besitzer wechseln können. Ein waches Auge auf den Aktienbestand sowie die finanziellen Möglichkeiten der Mitspielenden sind gefragt, um rechtzeitig eine drohende Übernahme zu erkennen und möglichst zu verhindern.
Der wirtschaftliche Zusammenhang zwischen steigenden Aktienkursen durch Ausschüttung der Verkaufseinnahmen und finanziellen Zwängen ist ebenfalls ein spannender Aspekt im Spiel. Zunächst erhalten die Firmen durch den Verkauf Ihrer Aktien Geld, das sie in Ihre Entwicklung stecken können. Doch um den Aktienkurs nach oben zu treiben, muss man die Einnahmen aus dem Warenverkauf ausschütten. Vom Verkaufserlös behält die Firma dann lediglich noch den Anteil für ihre Aktien, die noch in Firmenbesitz sind. Je erfolgreicher eine Firma also ist und je mehr ihrer Aktien verkauft sind, desto weniger Einnahmen bleiben bei der Firma selber und können in die Entwicklung gesteckt werden. Für den Handlungsbevollmächtigten der Firma ein häufiges Dilemma, da er als Hauptaktionär von einem sinkenden Kurswert natürlich am meisten betroffen ist, wenn er sich entscheiden muss, kein Geld auszuschütten.
Trotzdem bleibt das Spiel an dieser Stelle recht zahm, da ein gezielter Bankrott der eigenen Firma zum Schaden der Mitspielenden mir nicht möglich scheint. Eher ist es möglich, durch gezielten Verkauf von Aktien einen Mitspieler zu plagen. Mit jeder verkauften Aktie stürzt der Kurs um eine Stufe, was für einen Spielenden, der bis zum erlaubten Maximum von 60% an einer Firma beteiligt ist, einen herben Verlust bedeuten kann.
Dem entgegen steht allerdings die Tendenz im Spiel, dass die Aktienkurse am Ende doch nur eine Richtung kennen – nach oben - was der Verkaufsstrategie eher entgegensteht.
Leider konnte ich noch nicht genügend probieren, ob „bösartiges“ Spiel sich als Strategie auszahlen kann oder ob man damit hauptsächlich sich selbst und einen Kontrahenten in den Abgrund reißt, und damit den anderen Spielenden gleich zwei Konkurrenten aus dem Weg räumt.
Ein weiterer, interessanter Aspekt mit fiesen Möglichkeiten ist noch der Wareneinkauf bzw. die Produktion.
Für den Einkauf gibt es drei Marktplätze mit aufsteigenden Preisen und jeweils 4 zufälligen Ressourcen. Von diesen darf man nach Belieben (und nach Vermögen) Waren kaufen. Wird ein Marktplatz leer, rücken am Ende eines Zuges die Steine von den nachfolgenden Märkten nach und der teuerste Markt wird wieder neu befüllt. Für die ersten Spielenden im Einkauf ergibt sich hier die Möglichkeit, gezielt die Warensteine aufzukaufen, ohne einen Markt ganz zu leeren. So erhalten die folgenden Spielenden nur noch ein eingeschränktes Angebot, wodurch mit etwas Glück deren Produktion gezielt sabotiert werden kann.
In der Summe ergeben sich also vielfältige Stellschrauben im Spiel, die viel Raum für Interaktion ergeben. Entsprechend lohnt es sich eher, mit Vollbesetzung zu viert spielen, als zu zweit. Die Minimalbesetzung würde ich maximal zum Kennenlernen der Regeln empfehlen.
Die Ausstattung in der Ausgabe, die ich gespielt habe, ist sehr gut. Wie eingangs beschrieben ist der Karton gut gefüllt mit Spielplänen aus dickem Karton, Holzwürfeln und weiteren Markern.
Doch genau: Spielspaß bemisst sich nicht nach Inhalt und Gewicht des Spiels. Und so ganz 100% konnte mich das Spiel dann doch nicht überzeugen (allerdings räume ich an dieser Stelle ein, nicht so viele Testpartien gespielt zu haben, wie ich gerne wollte, um eine qualifiziertere Meinung abgeben zu können).
Als Kritikpunkte sehe ich den eher zahmen Spielverlauf. Am Ende sind alle Aktien gestiegen, und gewonnen hat häufig, wer am Anfang – eher zufällig – auf das richtige Pferd respektive Mitspielenden gesetzt hat. Im Zweifelsfall also an den Aktien von den erfahrenen Mitspielenden beteiligen, das hilft meist.
Die „fiesen“ Optionen im Spiel sind eher zahm und auch ein gutes Stück zufällig. Wenn im Markt nur wenig rote Steine liegen, kann ich Spielern, die rot für Ihre Produktion brauchen, in die Suppe spucken. Denen, die schwarz und braun brauchen, nicht, weil davon ist im Überfluss vorhanden.
Und auch das Ruinieren (oder eher Beeinträchtigen) der Kurse erfolgt ziemlich zufällig. Selten steht dahinter der gezielte Versuch, eine Aktie abstürzen zu lassen, entscheidend ist eher, welche Aktien man am Anfang zu seinen eigenen noch dazu gekauft hat (auch hier wieder – von den erfahrenen Mitspielenden kaufen, wenn es nicht hilft, so schadet es vielleicht ein wenig).
Für ein Spiel in der Gewichtsklasse von City of Big Shoulders würde ich etwas stärkere Handlungsoptionen erwarten, etwas mehr Raffinesse. Firma ruinieren und dann abstoßen, am besten dabei noch Mitspielende mit reinreißen, sowas ist leider nicht vorgesehen. Trotzdem ist City of Big Shoulders kein schlechtes Spiel. Viele Handlungsoptionen gefallen mir gut, und zu allen Kritikpunkten gibt es im Spiel auch Mechanismen, um diesen zu begegnen, z.B. nicht zu unterschätzen der Einfluss, den man mit der Spielreihenfolge gewinnen kann, was ich jetzt nicht weiter beschrieben hab.
Nach einem Glücksspiel fühlt sich City of Big Shoulders also nicht an, nur zu den ganz großen Wirtschaftsspielen kann es nach meinem Dafürhalten bedauerlicherweise nicht aufschließen. Dafür ist es aber auch weniger komplex und schneller gespielt. Wobei schnell etwa 2 bis 2,5 Stunden (bei 4 Spielenden) bedeutet.
Rezension Michael Timpe
Anmerkung: Zur besseren Lesbarkeit der Texte verwenden wir häufig das generische Maskulinum, welches sich zugleich auf weibliche, männliche und andere Geschlechteridentitäten bezieht.
H@LL9000 Wertung City of the Big Shoulders / Chicago 1875: City of the Big Shoulders: 5,0, 1 Bewertung(en)
Aufmachung | Spielbarkeit | Interaktion | Einfluss | Spielreiz | Kommentar |
17.07.22 von Michael Timpe - 18xx trifft Workerplacement. Nicht so komplex wie 18xx aber entsprechend auch weniger lang und leichter zugänglich. Ob das besser oder schlechter ist, ist Geschmackssache. Ich find 5 Punkte gut bewertet. Für 6 reicht es mir nicht. |
Leserwertung City of the Big Shoulders / Chicago 1875: City of the Big Shoulders: 5.7, 3 Bewertung(en)
Aufmachung | Spielbarkeit | Interaktion | Einfluss | Spielreiz | Kommentar |
19.04.21 von Everest - Ergänzung zum Vorredner: Auch der Personaleinsatzmechanismus ist ausgezeichnet. Die Einsatzfelder kommen in Form von Plättchen sukzessive ins Spiel. Wobei die Spieler entscheiden, welche Plättchen und wann ebendiese Einzug in die Partie finden. |
Aufmachung | Spielbarkeit | Interaktion | Einfluss | Spielreiz | Kommentar |
20.04.21 von Dietrich - Zum ersten Mal treffen die Spielmechanik des Aktien-Spiels von 18XX und die des Workerplacements aufeinander - das klappt hervorragend. Vor allem mit der Erweiterung "Burden of Destiny". In der Aktienrunde erwirbt der Spieler mit seinem Barvermögen Aktien und damit ein Unternehmen einer von mehreren Branchen; jedes Unternehmen kann aus mehreren Firmen bestehen, die sich erst im weiteren Spielverlauf entwickeln können. Auch kann er sich mit dem Erwerb von Aktien der Unternehmen der Mitspieler an ihren Gewinnen beteiligen - bis hin zur Übernahme der Präsidentschaft des fremden Unternehmens. In der anschließenden Workerplacement-Runde kann er seine Unternehmen mit deren Geld fördern und in eine gute Ausgangsposition bringen. Schließlich agieren die einzelnen Firmen seiner Unternehmen, indem sie ihre Waren günstig am Markt verkaufen. Ihren Gewinn schütten sie entweder an die Aktionäre (Spieler) aus oder behalten ihn für neue Investitionen ein. In jedem Fall wirkt sich diese Entscheidung auf den Aktienkurs und damit den Wert des Unternehmens aus. Dabei funktionieren die einzelnen Firmen unterschiedlich, so dass auch dieses einen Teil des Spielreizes ausmacht. Obwohl meine Mitspieler beim ersten Spiel noch skeptisch waren, ob die Spielmechaniken der 18XX-Spiele und des Workerplacements zusammenpassen, waren sie schließlich positiv überrascht - es geht! Ein Vorteil ist dabei sicher auch, dass das Spiel nach 5 Rundensets ("5 Jahrzehnte") beendet ist und nicht so lange dauert wie 18xx-Spiele gewöhnlich. |
Aufmachung | Spielbarkeit | Interaktion | Einfluss | Spielreiz | Kommentar |
28.10.24 von Alfred |