Spielziel
Eigentlich komisch. Wieso heißt unser Planet "Erde"? 70 % seiner Oberfläche sind von Wasser bedeckt, weshalb der blaue Planet in Wirklichkeit vielmehr "Wasser" heißen müsste. Aber wir Menschen als Landsäugetiere sind halt eher auf das Leben an Land fixiert, weshalb der Untergrund, auf dem wir uns bewegen, auch seinen Namen bestimmt. Übrigens ist dies in den meisten Sprachen ("earth", "terra", "terre", etc.) so.
Erde bildet auch die Grundlage für fast alle irdischen Pflanzen, welche im Laufe von Hunderten Millionen Jahren eine erstaunliche Vielfalt entwickelt haben. Im Spiel Erde finden wir insgesamt über 200 Pflanzen vor, die wir einpflanzen, bewässern, kultivieren, wachsen und gedeihen lassen wollen, um schlussendlich mit unserer Auslage die meisten Siegpunkte zu erzielen.
Ablauf
Die sogenannten "Florakarten" stellen auch den überwiegenden Teil aller im Spiel vorkommenden Karten dar. Sie weisen neben ihrer Bezeichnung, einem Foto und einem Infotext mit interessanten Fakten ein paar Merkmale auf: die Kosten (in "Erde"), den Siegpunktwert, ihre Klassifizierung in eine von 4 Kartenarten (Baum, Kraut, Pilz oder Busch), Habitat-Elemente (also die klimatischen Bedingungen, wie sonnig, feucht, steinig oder kalt), Felder für Sprossen, Platz für Wachstum, sowie eine oder zwei Fähigkeiten (farblich gekennzeichnet).
Im Hauptstapel befinden sich noch zwei weitere Typen von Karten: Terrainkarten gewähren während des Spiels Boni oder Gelegenheiten, bei Spielende Punkte zu generieren. Ereigniskarten hingegen dürfen jederzeit - auch während des Zugs eines Mitspielers - gespielt werden, um von einem sofortigen Effekt zu profitieren. All diese Karten werden gemischt und bilden einen riesigen Nachziehstapel.
Für die Vorbereitung werden jedoch noch weitere Karten benötigt. Jeder Spieler erhält nämlich neben seinem eigenen Spielertableau noch eine zufällige Inselkarte, welche ihm Startressourcen (Startkarten und ein paar Einheiten "Erde") und eine Startfähigkeit gewährt, eine Klimakarte mit einer Startfähigkeit, sowie eine Ökosystemkarte, die ihm bei Erfüllung des Ziels Siegpunkte bringt.
Zuletzt wird noch das Faunatableau vorbereitet, indem es mit 4 Faunakarten und 2 Ökosystemkarten bestückt wird, die den Spielern zusätzliche Möglichkeiten zu Siegpunkten bieten. Das restliche Spielmaterial - Erde (= die "Währung"), Sprossen, Stämme und Kronen - bildet einen allgemeinen Vorrat.
Wer an der Reihe ist, wählt eine aus 4 Aktionen und führt alle für den aktiven Spieler geltenden Optionen durch. Die entsprechende Aktion für die anderen, passiven Spieler ist deutlich schwächer. Dies sind die vier möglichen Aktionen:
Mit der Aktion "Pflanzen" (grün) kann der aktive Spieler bis zu 2 Karten aus seiner Hand in seine Auslage spielen, indem er ihre Kosten in Form von "Erde" bezahlt. Die Auslage ist auf ein 4 x 4-Raster beschränkt. Anschließend zieht er vier Karten vom Nachziehstapel, von denen er eine auf die Hand nehmen kann. Die anderen Spieler dürfen bloß 1 Karte ausspielen und 1 Karte ziehen.
Die Aktion "Kompostieren" (rot) erlaubt es dem Spieler, 5 "Erde" vom Vorrat zu erhalten und 2 Karten vom Nachziehstapel verdeckt auf seinen Kompoststapel zu legen. Die passiven Spieler können entweder 2 "Erde" bekommen oder 2 Karten "kompostieren".
Auch mit der Aktion "Wässern" (blau) gibt es für den aktiven Spielert Nachschub von 2 "Erde", zusätzlich darf er auf beliebige seiner ausliegenden Florakarten "Sprossen"-Würfel platzieren. Die anderen Spieler müssen sich zwischen 2 "Erde" und 2 "Sprossen" entscheiden.
Und schließlich erlaubt es die Aktion "Wachsen" (gelb) dem aktiven Spieler, sowohl vier Karten zu ziehen als auch 2 "Wachstum" auf beliebigen Florakarten seiner Auslage zu legen, während die passive Aktion darin besteht, zwischen 2 neuen Karten und 2 "Wachstum" wählen zu dürfen.
Die erwähnten Farben haben eine Bedeutung. Jeder Spieler - aktiver und passive(r) - darf anschließend die farblich passenden Fähigkeiten all seiner Karten, sowohl seines Rasters als auch seines Spielertableaus - nutzen. Dies kann ihm - manchmal gegen Abgabe bestimmter Elemente - zusätzliche Ressourcen, wie Karten, Erde, Sprossen, Wachstum, etc. bringen.
Das Spiel endet nach jener Runde, in der ein Spieler sein Raster aus 4 x 4 Karten (insgesamt 16) vervollständigt hat. In einer Schlusswertung zählen alle Spieler ihre Siegpunkte für folgende Kategorien: die Grundsiegpunkte aller ausliegenden Karten (in ihrer gesamten Auslage), 1 Punkt pro Karte in ihrem Kompost, 1 Punkt pro Spross in ihrem Raster, die Punkte für Wachstum (1 Punkt pro Stamm bzw. den Wachstumswert bei vollendetem Wachstum), Bonuspunkte für Terrains mit Wertungsbonus in ihrem Raster, Punkte für erfüllte Ökosystemziele (sowohl für das eigene als auch für die beiden allgemeinen Karten) und die Siegpunkte der Marker auf den Faunakarten. Wer schlussendlich die meisten Siegpunkte auf dem Wertungsblock erzielt hat, gewinnt die Partie.
Fazit
Momentan scheint es einen Trend zu Spielen zu geben, welche aus vielen unterschiedlichen Karten bestehen, mit diversen Effekten, Fähigkeiten und Verzahnungen. Und auch das Thema "Natur" ist zur Zeit "in", also Spiele mit Tieren, Pflanzen, Vögeln, etc. So ist etwa Arche Nova eines der beliebtesten Spiele des vergangenen Jahres und gewann völlig zurecht den Deutschen Spielepreis 2022.
So muss sich auch Erde einen Vergleich mit Arche Nova gefallen lassen. Thematisch schneidet es aber deutlich schlechter ab, denn obwohl die Spieler Pflanzen kultivieren, mit allem was dazugehört (einpflanzen mit Erde, wässern, Sprossen, Wachstum, kompostieren), wirkt es dennoch ziemlich mechanisch. Dies liegt vor allem daran, dass die Florakarten zu einem abstrakten Raster aus 4 x 4 Karten ausgelegt werden, während etwa bei Arche Nova doch einigermaßen realistische Gehege in einem Gelände angelegt werden, worin Tiere untergebracht werden.
Auch viele Effekte beziehen sich auf die Position der Karten in diesem Raster. So kann man mit manchen Fähigkeiten Elemente wie Sprossen oder Wachstum nur auf benachbarte Karten oder Karten in derselben Reihe oder Spalte platzieren. Oder es bringen einige Terrainkarten lediglich Punkte für bestimmte Karten in derselben Reihe oder Spalte. Und auch die Bonuspunkte vieler Ökosystemkarten nehmen Bezug auf Spalten, Reihen oder Diagonalen. Dies macht Erde intuitiv schwerer erfassbar.
Die Hauptaufgabe der Karten ist es, am Bau einer funktionierenden "Maschine" mitzuwirken. Die Fähigkeiten der Karten verhelfen einem ja - wenn die passende Aktionsfarbe gewählt wird - zu mehr Ressourcen, wie Sprossen, Wachstum, Karten, Erde, etc. Man kann sich hierbei auf eine Aktionsfarbe konzentrieren oder breiter streuen, um von jeder Aktion profitieren zu können. Wichtig ist, die Karten so zu wählen (und auch geschickt zu platzieren), dass ihre Fähigkeiten möglichst gut zueinanderpassen, sich optimal ergänzen, ein Maximum an "Ertrag" bringen. Man kann Erde also als einen richtigen Engine Builder bezeichnen.
Eine "Maschine" klingt aber eben doch sehr "künstlich", Man hat nicht das Gefühl, wirklich einen Lebensraum für Pflanzen (und Tiere) zu schaffen, sondern ist vielmehr um eine effektive Anordnung und Platzierung geeigneter Karten bemüht. Es geht also um Optimierung, um Effizienz, alles Begriffe, die man nicht mit natürlichem Wachstum, ökologischen Lebensbedingungen in Verbindung bringt.
Abgesehen von diesem thematischen Stilbruch weiß Erde durchaus zu gefallen. Es gibt viel zu beachten, vom ausreichenden Kartennachschub über passende Fähigkeiten bis hin zu den Anforderungen der Ökosystemkarten, der Terrainkarten und der Faunakarten. Es gilt, die vielen Möglichkeiten, an Punkte zu gelangen, zu berücksichtigen, unter einen Hut zu bringen, das Beste daraus zu machen. Diese Optimierungsaufgabe empfinde ich als sehr attraktiv und immer wieder non Neuem herausfordernd.
Die vielen Karten bringen aber naturgemäß doch einen beträchtlichen Glücksanteil ins Spiel. Wer öfter die für seine gewählte Strategie passenden Karten vorfindet, kann üblicherweise mehr Punkte machen. Deshalb ist ein regelmäßiger Kartennachschub wichtig, sodass man nicht ständig selbst auf die entsprechenden Aktionen zurückgreifen muss.
Die Interaktion spielt hingegen nur eine untergeordnete Rolle. Man sollte zwar stets ein Augenmerk auf das Raster der Mitspielenden legen, um nicht Aktionen zu wählen, von denen die anderen dummerweise mehr profitieren als man selbst. Ansonsten hat die eigene Auslage aber kaum Auswirkung auf die Konkurrenz. Lediglich bei den Faunakarten kommen sich die Spieler ins Gehege. Die Punkte für die Erfüllung der Bedingung einer Faunakarte - beispielsweise mindestens 4 "Bäume" oder 8+ Karten mit feuchtem Habitat - richten sich nämlich nach der Reihenfolge. Wer die Bedingungen geschafft hat, legt seinen Marker auf den höchsten noch zur Verfügung stehenden Punktewert.
Ansonsten präsentiert sich Erde eher als sogenanntes Mehrpersonen-Solitärspiel, ein Spiel also, bei dem man vor sich her werkelt und nur wenig von den Aktionen der Mitspielenden mitbekommt. Diese Art von Spielen gefällt nicht jedem und birgt außerdem die Gefahr des Schummelns, weshalb sie von einigen Mitgliedern meines Spieleklubs strikt abgelehnt wird.
Dafür eignet sich Erde vorzüglich als Solo-Spiel. Im Solo-Modus spielt man alleine gegen eine "Künstliche Intelligenz", deren Aktionen mit einem eigenen Deck aus 6 Solo-Karten gesteuert werden, und welche auch auf die Aktionen des Solospielers reagiert. Es gilt, mehr Punkte zu erzielen als die KI, was sich natürlich im höheren der beiden Schwierigkeitsgrade als wesentlich herausfordernder gestaltet.

Noch ein paar Worte zum (umfangreichen) Spielmaterial: Neben den über 360 Karten, allesamt individuell gestaltet und in einigen Fällen (Insel-, Klima-, Ökosystem- und Faunakarten) sogar doppelseitig für mehr Abwechslung, den Tableaus und den Plättchen gibt es noch jede Menge Holzteile, allen voran die Stämme und Kronen, welche die Pflanzen dreidimensional in die Höhe wachsen lassen. Alles wirkt ein bisschen bunt, macht aber - mit Ausnahme der viel zu fizzeligen Spielermarker - insgesamt einen guten Eindruck.
So bleibt abschließend zusammenzufassen: Erde kann zwar thematisch nicht überzeugen und lässt auch nur wenig Interaktion zu, weiß aber mit Abwechslung durch die Vielzahl unterschiedlicher Karten und als attraktives "Engine Builder"-Spiel zu gefallen.
Rezension Franky Bayer
Anmerkung: Zur besseren Lesbarkeit der Texte verwenden wir häufig das generische Maskulinum, welches sich zugleich auf weibliche, männliche und andere Geschlechteridentitäten bezieht.