Spielerei-Rezension
Zauberhaftes Spielen in der Atmosphäre von 1001 Nacht
Der Name Richard Breese ist in der Spieleszene seit ein paar Jahren ein Begriff. Seitdem er pünktlich zur "Spiel" in Essen ein neues Spiel präsentiert, werden ihm diese genauso regelmäßig fast aus den Händen gerissen. Bei der Kleinauflage in seinem eigenen Verlag bedeutete das meistens, dass Richard seinen Stand bereits am Freitag (dem 2.Tag von vier Tagen der "Spiel" wohlgemerkt!) verlassen konnte und sich selbst einen Überblick über die anderen Spiele verschaffte – seine Spiele waren ausverkauft! Umso schöner ist es, dass jetzt bei einem renommierten Verlag wie "Hans im Glück" seine '98 Kreation herausgebracht wird, allerdings mit einigen Änderungen. So spielt das Geschehen nicht mehr in einem England-ähnlichen Land unter dem Titel KEYDOM, sondern im Morgenland unter eben diesem Titel. Da ich selbst leider nicht zu den Glücklichen gehöre, die damals ein KEYDOM ergattern konnten (irgendwie ist mir der Titel leider durchgerutscht), kann ich auch keine direkten Vergleiche der beiden Spiele vornehmen. Nur: Eine Chance auf das Originalspiel hat man wahrscheinlich sowieso nicht, außer man ist bereit, viel Geld (100 Euro und mehr) dafür bei einer Auktion zu bieten, obwohl das Material von KEYDOM diesen Preis nicht rechtfertigt. Das Material beim neuen MORGENLAND ist dagegen von gewohnt guter HiG-Qualität, sowohl Karten, Chips, Spielsteine als auch Spielbrett genügen auch höheren Ansprüchen.
Das Spielfeld selbst ist in drei Ebenen unterteilt: im unteren Drittel liegt die Drachenhöhle, in der die Spieler sagenhafte Schätze finden können. Das Mittelfeld wird von der Stadt eingenommen, der Markt, die Karawanserei, der Dschinn und Aladin Zelt sind hier zu abgebildet. Und schließlich im oberen Bereich das Ziel aller Sehnsüchte, der Palast des Sultans. Geschützt von einem starken Wächter ist das der Ort, an dem man für seine Schätze wertvolle Artefakte kaufen kann. Sieger ist der Spieler, der am Ende des Spiels (= alle Artefakte sind verkauft) die meisten dieser Pretiosen besitzt. Und der Erwerb der Artefakte ist gar nicht so einfach! Doch alles schön der Reihe nach. Zuerst erhält jeder Spieler 8 Figuren (=Chips), auf welchen die Zahlen 1-9 aufgedruckt sind (ohne die 3!). Weiterhin gehört zur Grundausstattung jedes Mitspielers ein Sichtschutz und ein Artefakt, nämlich Aladins Wunderlampe. Damit ausgestattet versucht jetzt jeder, möglichst geschickt auf dem Spielfeld zu agieren. Dazu werden in jeder Runde zunächst einmal die Chips verdeckt auf dem Brett platziert, entweder in der Drachenhöhle, um Schätze zu erobern, in der Stadt, um bestimmte Vorteile zu erlangen, z.B. Starspieler zu werden, oder in den Palast, um dort unterschiedliche Artefakte zu erwerben. Für die Abrechnung der Chips hat sich Richard Breese einige nette Mechanismen einfallen lassen.
So bekommen in der Drachenhöhle längst nicht alle Spieler Anteile von Schätzen in ihre Hände, manchmal ist es nur der Spieler mit dem höchsten Einsatz (= höchste Zahl auf seinen Chips), der alle Schätze eines Teils der Höhle kassiert. Über die Art und Menge der zu gewinnenden Schätze entscheidet eine vorher aufgedeckte Schatzkarte. Nachdem diese Chips also aufgedeckt und abgerechnet wurden, werden die Chips in der Stadt ausgewertet. Auch hier zählen auf den Feldern wieder Mehrheiten. Besonders interessant ist die Chance, Startspieler zu werden. Denn bei Gleichheit von Chips gewinnt immer der dem Startspieler am nächsten sitzende Spieler, und am allernächsten ist immer der Startspieler selbst! Als dritte Aktion werden die beim Palastwächter eingesetzten Chips umgedreht, denn um diesen Wächter zu besiegen, muss eine höhere Wertigkeit erzielt werden als auf einem zufällig aufgedeckten Chip des Palastwächters aufgedruckt ist.
Reicht die Kraft nicht, kann der Wächter auch mit Schätzen in Höhe der Differenz bestochen werden. Nur wer am Wächter vorbei ist, kann im Palast einkaufen – und auch nur da, wo er mit einem seiner Chips vertreten ist. Denn es gibt (zumindest am Anfang) 5 Stapel mit Artefakten, wobei das oberste jeweils offen liegt (zumindest in der von uns ausschließlich gespielten sog. "Profivariante") der Preis berechnet sich wiederum auf originelle Weise: die Anzahl der eingesetzten eigenen Chips entscheidet darüber, mit wie viel verschiedenen Schatzsorten man das Artefakt bezahlen muss (insgesamt gibt es 5 Sorten). Die Zahl auf diesen Chips gibt dann die Menge an Schätzen an, die eingebracht werden müssen. Hat man sich verkalkuliert, ist der Zweitstärkste in diesem Feld an der Reihe. Kann auch er nicht kaufen, gibt es keinen Erwerb an dieser Stelle, ein möglicher Dritter erhält in keinem Fall eine Einkaufschance.
Die Artefakte sind nicht nur für den Sieg ausschlaggebend, sie geben ihrem Besitzer auch noch zusätzliche Fähigkeiten. Allerdings darf jeder Spieler pro Runde nur eine seiner Artefaktkarten ausspielen und sich ihrer Eigenschaft bedienen. Aladins Wunderlampe z.B. erlaubt den Einsatz beliebig vieler Zauberkarten bis zum Ende der Runde. Dieser Zauberkarten erhält man übrigens nur in Aladins Zelt, einem Feld der Stadt im Mittelteil des Spielbretts. Und diese Zauberkarten haben es in sich, so können plötzlich "die Letzten die Ersten sein": alle auf dem Plan eingesetzten "1"er werden zu "9"ern und umgekehrt – da kommt Freude auf! Oder es muss geopfert werden, indem alle Spieler 7 Schätze zurück in den Vorrat geben. Alle Zauberkarten wirken erst ab ihrem Ausspiel, also nicht rückwirkend für bereits abgerechnete Felder. Es gilt also genau zu überlegen, wann man sie ausspielt. Der Zeitpunkt ist frei wählbar, der Spieler muss nicht selbst an der Reihe sein. Ausgespielte Artefakte gibt's am Ende der Runde zurück, die eingesetzten Zauberkarten gehen auf den Ablagestapel.
MORGENLAND ist kein kompliziertes Spiel, der Begriff "Familienspiel" passt hier sicher voll. Die Regeln sind schlüssig und in sich logisch, auch der Regelumfang überfordert einen normalen Spieler nicht. Problematischer ist der Aufbau der Regeln, hier wollte der Verlag es besonders gut machen, hat aber das Ziel ziemlich verfehlt. Die Spielregel ist ein großes, doppelseitig bedrucktes Blatt, auf dem in einzelnen Schritten der Spielablauf skizziert wird – denkt man auf den ersten Blick. Beim Durchlesen bemerkt man, dass immer wieder auf die sogenannte "Fibel" verwiesen wird, eine Art "Siedleralmanach". Hier werden wesentliche Regelpassagen erklärt und verständlich gemacht. Um also tatsächlich hinter die Spielregeln zu kommen, ist ein mühseliges Hin- und Herblättern nötig. Dass außerdem bei genauer Befolgung der Anweisungen der Punkt "3" der Spielregel gar nicht gelesen werden soll und man dann überhaupt nicht weiß, wie man die Chips einsetzt, ist ein zwar ärgerlicher Fehler, doch wird er eigentlich jeder Gruppe sofort auffallen. Durch die Regel sollte man sich keineswegs vom Kauf dieses Spiels abhalten lassen. Es bietet einen hohen Spielspaß, seine Bluffelemente lassen immer wieder verblüffte Mienen am Tisch erkennen. Das Spiel bietet sowohl unbeeinflussbare Elemente (z.B. Ziehen der Schatzkarte in jeder Runde, Einsatz von Zauberkarten), aber auch zahlreiche taktische Möglichkeiten. Fast jedes Feld hat andere Vorteile, durch die begrenzten Spielsteine hat man natürlich auch nur begrenzte Handlungsmöglichkeiten. Klar, viele Schätze möchte jeder einsammeln. Aber auch Zauberkarten sind begehrt, im Palast möchte man vertreten sein (wg. Artefaktenkaufs), es wäre aber auch nicht schlecht, Startspieler zu sein – hier hilft nur ein gutes Abschätzen der aktuellen Situation und ein kluges Taktieren. Das Spiel ist in seinen Möglichkeiten facettenreicher, als man nach den ersten Spielzügen meint. Auf die Dauer gewinnt nur derjenige, der tatsächlich aus seiner Situation das optimale Ergebnis erzielt, und genau das macht doch ein gutes Spiel aus. Also Leute, lasst euch ein wenig auf die gewöhnungsbedürftige Spielanleitung ein, es entginge euch sonst ein wirklich schönes Spiel für die ganze Familie!
Rezension Michael Schramm
In Kooperation mit der Spielezeitschrift