Spielziel
Kanonenrauch steigt auf, ein Enterhaken gräbt sich ins Gebälk. Säbelschwingend und gierig nach Gold und Dukaten fällt eine Truppe Piraten über das wehrlose Handelsschiff her. Doch kaum ist die Beute in Besitz der Halunken entbrennt Streit darüber, wer die dickste Belohnung bekommen soll …
Ablauf
Fünf Piraten (Holzscheiben im Wert von 2 bis 5, darunter ein "?") machen sich pro Spieler auf die Jagd nach Schiffen und deren Reichtümern. Ein Spielzug verläuft denkbar simpel: Entweder "bewegen" (Holzscheiben umstapeln) oder "entern" (Handelsschiff plündern).
Bewegen bedeutet, einen eigenen Piraten oder einen Stapel, der von einem eigenen Piraten kommandiert wird (eigene Scheibe liegt obenauf) auf andere Piraten zu platzieren. Die so anwachsenden, bunt gemischten Scheibenstapel bilden eingeschworene Entermannschaften, die vor einem Überfall nicht mehr getrennt werden dürfen. Der jeweils oberste Pirat fungiert als Kapitän.
Jeweils drei Handelsschiffe liegen in Kartenform als mögliche Enterziele aus. Sobald ein Piratenstapel die auf der Karte angegebene Scheibenanzahl erreicht, kann das betreffende Schiff vom Kapitän der Entermannschaft angegriffen und geplündert werden. Ein Schiff führt je nach Größe 1 - 2 Schätze mit sich, von denen sich der Kapitän sofort einen unter den Nagel reißt. Der 1. Offizier (zweithöchste Holzscheibe im Stapel) erhält ggf. den zweiten Schatz. Die Dukaten werden unter der gesamten Entermannschaft aufgeteilt: Jeder Pirat erhält Dukaten entsprechend seines Zahlenwertes, den Rest (so vorhanden) bekommt der Kapitän. Sollten die Dukaten des Schiffes nicht ausreichen, um die gesamte Mannschaft zu entlohnen, muss der Piratenkapitän jedoch die zu kurz gekommenen aus eigener Tasche bezahlen – was teuer werden kann. Pech hat ein Kapitän auch, wenn sich drei Piraten gleicher Farbe in seine Mannschaft schmuggeln – die drei Halunken halten nämlich zusammen, meutern gegen ihren Chef und schwingen fortan selbst das (Enter-)Kommando.
Erst wenn alle drei ausliegenden Handelsschiffe geentert wurden, stechen drei neue, prall gefüllte Kähne in See. Sind alle 15 Handelsschiffe um ihre Fracht erleichtert worden, erfolgt die Endabrechnung. Mehrheitseigner von Beuteschätzen (4 Typen) erhalten den aufgedruckten Zahlenwert, ohne Mehrheit ist jeder Schatz nur 1 Dukate wert. In Summe mit den Münzdukaten wird danach ermittelt, wer zum reichsten und damit gefürchtetsten aller Piraten aufgestiegen ist.
Fazit
Selten habe ich ein Spiel erlebt, bei dem der erste Eindruck so trügen kann wie bei Seeräuber. Hübsches, übersichtliches Material (allerdings hätten 3er-Dukaten nicht geschadet, da sehr viel mit kleinen Geldbeträgen hantiert wird), ein denkbar simples Regelwerk - da kann doch nicht viel dahinter stecken? Weit gefehlt!
Nachdem man 2 - 3 Partien lang eher planlos vor sich hin stapelt und entert, offenbart sich mit wachsender Spielerfahrung eine Reihe taktischer Winkelzüge. Sicher: Hat man die Chance, ein Schiff als Kapitän zu entern, wird man diese fast immer nutzen. Doch der begehrte Schatz kann teuer werden, wenn sich in einer großen Entermannschaft viele hochwertige, fremde Piraten befinden. Zwingt man gar durch Meuterei oder vorausschauendes Entern eine solche Mannschaft auf ein kleines Handelsschiff, kann man den Kapitän regelrecht ausbluten lassen.
Von Vorteil ist dabei, sich den Verbleib der eigenen Piraten(werte) zu merken und über die Wertigkeiten der Stapel wenigstens einen groben Überblick zu behalten. In besonderem Maße gilt das für die "?-Piraten", deren Lukrativität sich an der Zahlenangabe auf der Schiffskarte orientiert - ein Memoryeffekt, der vielleicht nicht jedermanns Sache ist.
Schlauer ist es daher oft, nur die Rolle des 1. Offiziers (zweitoberster Pirat) zu bekleiden. Denn auch hier fällt meist ein Schatz ab, aber man gerät nicht in die Gefahr, Kameraden aus eigener Tasche entlohnen zu müssen. Ebenso sinnvoll kann es sein, meuterfähige Drillinge zu bilden, wenn gerade dukatenreiche Handelsschiffe ausliegen. Dann kassiert man gleich dreifach mit - oder zwingt seine Mitspieler frühzeitig zu ungewollten Enteraktionen.
Sowieso gilt: Der Weg zum Erfolg führt weniger über die Häufigkeit der Kapitänsrolle als vielmehr über die Regelmäßigkeit, in der man in Entermannschaften vertreten ist. Es regiert das Kuckucksei-Prinzip: Möglichst immer einen oder mehrere lukrative Piraten unter die Plünderer schmuggeln, ohne die Mannschaft für Mitspieler gänzlich unattraktiv zu machen. Diesen Balanceakt zu meistern, sich gleichzeitig die ungefähre Stärke der Mannschaften zu merken und den Überblick über mögliche Kapitäns- oder Meuterchancen zu wahren – nein, Seeräuber ist kein oberflächliches, belangloses Spiel, wenn auch beileibe kein "Strategiehammer".
Die Spielerzahl prägt das Spielgeschehen zusätzlich: Bei mehr Spielern hat man weniger direkten Einfluss auf das Entergeschehen, muss mehrfach tatenlos zusehen und auf die Gunst der Mitspieler hoffen. Allerdings sind hier meist mehrere unterschiedliche Piratenstapel aktiv im Spiel, so dass auch die Auswahl an eigenen, sinnvollen Zugmöglichkeiten steigt. Bei drei Spielern ist zwar theoretisch mehr Planung möglich, doch ist man als aktiver Spieler oft auf 1 - 2 Piratenstapel beschränkt oder muss ganz neu zu stapeln beginnen. Da macht das latente Chaos bei 4 - 5 Spielern etwas mehr Spaß.
Eine Gefahr obliegt einem Spiel, dessen Raffinessen sich nicht sofort erschließen, immer: Hat man einen unerfahrenen oder unkonzentrierten Vordermann, erhält man oft spielentscheidende Steilvorlagen. Eine sehr inhomogene Spielergruppe aus erfahrenen Seeräubern und frischem Heuerpersonal lässt günstig sitzende Seebären deutlich schneller reich werden.
Seeräuber ist damit ein kurzweiliges, leicht erlernbares Spiel mit verblüffendem Tiefgang, den man allerdings erst entdecken muss. Wer das Spiel nach der ersten Partie achselzuckend zur Seite gelegt hat, sollte ihm mindestens eine zweite Chance geben – es könnte sich lohnen.
Rezension Steffen Stroh
Anmerkung: Zur besseren Lesbarkeit der Texte verwenden wir häufig das generische Maskulinum, welches sich zugleich auf weibliche, männliche und andere Geschlechteridentitäten bezieht.